Gerechtigkeitsforschung aktuell: Vorsitzender des deutscher Richterbundes befürchtet Abstieg des Rechts

Ist Besorgnis angezeigt?

Müssen wir uns um Recht und Gerechtigkeit wirklich sorgen?

Der Vorsitzende des deutschen Richterbundes beklagt in der Zeitung „Die Welt“ den Niedergang des deutschen Rechts. Selbstgestrickte Gerechtigkeit würde anstelle des Rechts treten und so die Akzeptanz des Rechts in der Gesellschaft verfallen. Abgesehen davon, dass ich von dieser Gefahr schon seit 2009 erzähle und schreibe, sollte man sich besser fragen, warum das so ist. Das ist dann nicht Jura, sondern Gerechtigkeitsforschung pur. Und eine Verkettung Irrtümern. Sie sind Ursache für ein mögliches Auseinanderdriften unserer Gesellschaft.

Irrtum 1: Gerechtigkeit ist ein Zustand

Menschen haben seit Urzeit ein angeborenes Gerechtigkeitsempfinden. Dort findet – verkürzt gesagt – eine Bewertung von Geschehnissen anhand der Kultur, dem Bildungsgrad, den persönlichen Werten und Erfahrungen eines jeden Einzelnen statt.  Fatal daran ist, dass es sich um ein unterbewusstes Gefühl handelt, also keine echte rationelle Entscheidung darstellt. Hirnforscher haben das längst bewiesen. Um nun zu verstehen, welche Macht das Gerechtigkeitsempfinden hat, muss man sich folgende Zahlen ansehen: Jedes Gehirn kann pro Sekunde etwa 11.000.000 bit wahrnehmen, 40-60 bit davon aber nur bewusst. Der Rest ist unterbewusst. Das zeigt deutlich die Kraft des Unterbewusstseins. Und genau dieses Unterbewusstseins ist es nun, das auch das Gerechtigkeitsempfinden dominiert. Das Gerechtigkeitsgefühl und seine Beurteilungen erfolgen also emotional und nicht rational. Gerechtigkeit ist also eine emotionale Bewertung und kein rationeller Zustand!

Irrtum 2: Wissenlücken werden mit Fakten gefüllt

Erst das Recht hebt diese Bewertung auf die Ebene des Rationalen. Ein Vorsitzender des Richterbundes, der dieses den Menschen zum Vorwurf macht, die nicht Jura studier(t)en, muss sich selbst in Frage stellen lassen. Denn Tatsache ist: Viele Menschen kommen aufgrund der vielen Gesetze und Urteile einfach nicht mehr mit und verstehen folglich nicht mehr alles. Sie werden tatsächlich und wissenstechnisch abgehängt. Die dabei entstehenden Wissenslücken werden dann eben anders gefüllt. Die einen machen das dann zum Beispiel mit Religion, andere mit Halbwissen oder Vorurteilen. Gemeinsam haben beide, dass nicht Fakten die Entscheidung beeinflussen, sondern das was der Einzelne glaubt zu wissen oder auch nur glaubt. Im Falle der Gerechtigkeit glaubt der Einzelne eben das, was er fühlt. Und da sind wir wieder beim Unterbewusstsein. Es dominiert das Gerechtigkeitsempfinden und speist sich nur am Rande aus Fakten.

Irrtum 3: Die Justiz ist schlecht

An dieser Stelle darf dann gefragt werden, weshalb sich die Gesetzgebung so weit vom Gerechtigkeitsempfinden entfernt hat. Und damit auch die Justiz, welche die schwere Aufgabe hat mit diesen Gesetzen zu arbeiten und sie umzusetzen. Dabei tut sie sich – wie es scheint – nun schwer. Aber ist also die Justiz die Ursache des Problems oder sind es sind die Gesetze und die Finanzierungslücken. Hoher Kostendruck und damit weniger Stellen in der Justiz führen zu weniger intensiver Beschäftigung mit einem Fall. Schließlich warten noch eine Menge anderer Fälle auf die Richter. Da kann schon mal ein Urteil darunter leiden. Eine verständliche Erklörung der Entscheidung ist dabei eher utopisch und wird durch standartisierte Phrasen ersetzt. Verständlich aus Sicht des Richters, schließlich ist die Zeit und das Geld knapp, da muss man rationell handeln. Zeit für intensive Begründungen und Erklärungen bleiben nicht. Sind also die Urteile das alleinige Problem? Nein, ist sind sie nicht.

Menschen wollen nicht mehr länger in ein System gepresst werden. Dabei ist gleichgültig, ob es ein politisches oder eben ein rechtliches System ist. Wir leben im Zeitalter der Individualisierung und Emanzipation (noch nie haben sich so viele Minderheiten erhoben und ihre Rechte eingefordert wie heute!). Fatal dabei: Jeder denkt (das ist jetzt völlig bewertungsfrei), dass es gerade seine Interessen, sein Leben und seine Werte sind, die sich nicht mehr unterordnen müssen. Die Menschen gestehen sich eine sehr große, persönliche Wichtigkeit im Kontext des Ganzen zu. „Demut war gestern, heute sind wir alle Sieger oder Helden“, könnte das Motto lauten. Wer sich in den sozialen Medien bewegt, erlebt tagtäglich wie sich normale Menschen dort überhöhen. Man darf das getrost als Trend bezeichnen. In einem solchen Trend ist es schwer, sich unterzuordnen ohne als Verlierer oder Schwächling darzustehen. Also macht es fast keiner mehr! Urteile, die unterwerfen statt zu erklären, werden dann eben angezweifelt um den eigene Status zu behalten und nicht als Verlierer dazu stehen. Das ist dann ein eher gesellschaftliches Problem, welches gelöst werden muss.

Irrtum 4: Urteile werden akzeptiert, verstanden werden müssen sie nicht

Und nun kommt das Recht und entscheidet rational und oft sehr richtig, was zu tun ist und was nicht. Diese Entscheidung steht nun im Widerspruch mit dem Gerechtigkeitsempfinden des Einzelnen und dem Trend zur Individualisierung. Da ist es doch mehr als klar, dass unser Rechtsstaat Probleme bekommt. Meine Prognose: Ändert sich nichts, wird er untergehen! Und damit die Freiheit und Gerechtigkeit gleich mit. Es liegt also in den Händen des Gesetzgebers und der Justiz wieder verständlicher zu werden und das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen zumindest als Ansatzpunkt zu nehmen. In anderen Ländern geschieht dies zum Beispiel durch echte Geschworenengerichte. Direkte Demokratie dagegen ist Gift, denn die meisten Menschen können die Tragweite eines Gesetzes nur schwer erkennen, weil sie zu sehr auf ihren bekannten Lebensbereich fokussieren. Das ist jetzt nicht abwertend gemeint und ich möchte mich da nicht ausnehmen. Wirklich verstehen heute meist noch Sachverständige die jeweilige Materie. Das gilt auch für das Recht, nur mit dem Unterschied, dass sich alle daran halten sollen.

Irrtum 5: Härte Strafen schaffen mehr Gerechtigkeit

Fast die Hälfte der Menschen in Deutschland denken, die Justiz ist zu lasch und härtere Strafen seien nötig. Das ist falsch. Oder haben etwa die USA weniger Verbrechen zu beklagen nur weil sie dort sogar noch die härteste (und inakzeptabelste) aller Strafen, die Todesstrafe, verhängen können? Nein, eher das Gegenteil ist der Fall, denn ein Täter denkt im Moment der Tat nicht an die Strafe. Härtere Strafen erhöhen nicht die Abschreckung, sondern den Anreiz sich vor Entdeckung zu entziehen! Auch das ist kein Geheimnis (Jeder Strafverteidiger wird das bestätigen können). Härte Strafe bringen nichts als Kosten und die können wir uns nicht leisten. Einen positiven Abschreckungseffekt haben sie nicht. Die Forderung ist – das kann man so hart sagen – nichts als sinnloser Populismus.

Irrtum 6: Gerechtigkeit ist nur was für den Gerichtssaal

Wer glaubt, Gerechtigkeit ist nur ein Thema für den Gerichtssaal, der irrt gewaltig. Menschen tragen ihr verletztes Gerechtigkeitsempfinden zu Demonstrationen auf die Straße, bei Kaufentscheidungen in den Supermarkt (Stichwort Fair Trade) und als sog. Meinungsfreiheit ins Internet. Gerechtigkeit ist ein Gesellschaftsthema. Unternehmen heute wissen, dass man gegen das Gerechtigkeitsempfinden der Kunden nicht mehr bestehen kann. Der Rechtsstaat weiß das offensichtlich nicht wirklich.

Meiner Meinung nach die könnte die Lösung so aussehen

Es ist es wichtig, dass die Justiz sich wieder verstärkt mit dem Gerechtigkeitsempfinden der Menschen auseinandersetzt. Die Mehrheit will abholt werden und verstehen, was hinter der Entscheidung steht. Sie möchte schlicht erklärt bekommen, wie es zum Urteil kam und nicht mehr wie im vorletzten Jahrhundert eine Entscheidung vorgesetzt bekommen. Dabei soll das eigene Gerechtigkeitsempfinden bitte einbezogen werden. Das ist anstrengend, aber so ist es heute nun mal. Wir eben schreiben das Zeitalter der Individualisierung und der Emanzipation

Zu guter Letzt erlaube ich mir auch noch ein paar persönliche Worte. Ich betreibe Gerechtigkeitsforschung nun seit sehr vielen Jahren und wurde dafür von den allermeisten Juristen belächelt. Das ist sehr schade, denn wer als Jurist nicht weiß, was Gerechtigkeit ist, kann sie auch nur sehr schwer leisten. Aber genau daran werden wir gemessen. Die Menschen erwarten Gerechtigkeit, nicht mehr nur die vorgesetzte Rechtslage. Sie wollen mit ihren Emotionen aufgenommen werden anstatt sich nicht nachvollziehbare Argumente anzuhören, die vielleicht sogar gegen das eigenen Empfinden laufen. Wird das nicht gelöst, dann werden Rechtspopulisten sich genau dieses Thema bemächtigen und die Justiz vor sich hertreiben. Das kann keiner wollen. Der Rechtsstaat ist die Garantie von Freiheit. Wenn er die Kurve zur Gerechtigkeit bekommt, ist er im „Jetzt“ angekommen. Tut er das nicht, wird er entweder autoritär bis diktatorisch überleben oder scheitern. Das ist aber keine Lösung. Es wird Zeit zur Veränderung.

P.S. Das Thema in einem Blogbeitrag abzuhandlen ist sicher nicht lückelos möglich. Um die Gerechtigkeitsforschung wenigstens etwas ins Blickfeld zu rücken, sollte es aber reichen.